Aktuelles vom BGH zur Gelenk-Rechtsprechung und zum richtigen Zeitpunkt der Erstbemessung – VK 2016, 39

Zwei Entscheidungen des für das Versicherungsrecht zuständigen 4. Zivilsenats des BGH zur privaten Unfallversicherung stellen derzeit sowohl VR und VN als auch die mit der Bemessung der unfallbedingten Invalidität beauftragten Gutachter und nicht zuletzt die Gerichte und die Parteivertreter vor erhebliche Probleme.

  1. Mit Urteil vom 1.4.15 (IV ZR 104/13) hat der BGH entschieden, dass die unfallbedingte Verletzung des Schultergelenks nicht vom Armwert erfasst wird, wenn das Schultergelenk in den Bestimmungen der Gliedertaxe nicht erwähnt wird. In diesem Fall sei die unfallbedingte Invalidität außerhalb der Gliedertaxe zu bemessen. Mit anderen Worten: Das Schultergelenk (bzw. die dadurch vermittelte Funktionsbeeinträchtigung) gehört nach dem Verständnis des durchschnittlichen VN erst dann zum Arm(wert), wenn ihm das in den AUB bzw. der Gliedertaxe gesagt wird. Stichwort: „Gelenk-Rechtsprechung“. Die Entscheidung ist damit für Bedingungswerke beachtlich, in denen gerade keine (unklaren) Klauseln wie „Fuß im Fußgelenk“ (BGH VersR 01, 360), „Hand im Handgelenk“ (BGH VersR 03, 1163) und „Arm im Schultergelenk“ (BGH VK 06, 160) vereinbart wurden. Darauf muss man erstmal kommen. Soll das auch gelten, wenn das Gelenk durch eine erhöhte Kraftanstrengung (z. B. Zug am Arm) verrenkt wird? Stichwort „erweiterter Unfallbegriff“. Wenn das Schultergelenk nicht zum Arm gehört, wozu denn dann? Zum Rumpf sicher nicht. Es wurde bereits zutreffend darauf hingewiesen, dass nach medizinischen Gesichtspunkten keinerlei Zweifel daran bestehen kann, dass dem Schultergelenk kein isolierter Selbstzweck zukommt. Es ist schlichtweg dazu da, den Arm zu bewegen. Insoweit entspricht es einhelliger medizinischer Begutachtungsliteratur, dass Schulterverletzungen nach Armwert bemessen werden.

    Gleichwohl ist nun der „Schulterwert“ außerhalb der Gliedertaxe  zu bemessen. RA Melzer stellt dazu einen Vorschlag aus der medizinischen Begutachtungsliteratur vor.

  2. Ferner geht RA Melzer auf das Urteil des BGH vom 18.11.15 (IV ZR 124/15) ein. Der Senat hat mit der Entscheidung klargestellt, dass es hinsichtlich Grund und Höhe grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Ablaufs der in den AUB vereinbarten Invaliditätseintrittsfrist ankommt. Der Erkenntnisstand im Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung sei nur maßgebend dafür, ob sich rückschauend bezogen auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Invaliditätseintrittsfrist bessere tatsächliche Einsichten zu den Prognosegrundlagen bezüglich des Eintritts der Invalidität und ihres Grads eröffnen. Daher ist, auch bei laufenden Rechtsstreitigkeiten und in Abkehr der üblichen Begutachtungspraxis, grundsätzlich nicht auf den Zustand zum Ende des dritten Unfalljahres abzustellen. Vielmehr ist – ggf. rückschauend – auf die Prognose zum Zeitpunkt der vereinbarten Invaliditätseintrittsfrist abzustellen. Das sind in der Regel zwölf Monate ab Unfallereignis, wenn es um die Erstbemessung geht. Konsequent angewendet kann das dazu führen, dass alle Beteiligten (der VR, der Privatgutachter, der gerichtlich bestellte Gutachter aufgrund des Beweisbeschlusses und der VN) bis dahin auf den Zustand bei Ablauf der „magischen Grenze“ von drei Jahren ab Unfall abgestellt haben.

    Dabei hat der BGH bereits früher darauf hingewiesen, dass es auf die Dreijahresfrist nur ankommt, wenn innerhalb dieses Zeitraums eine Partei die vorbehaltene Neubemessung verlangt (BGH VersR 10, 243). Die zweite Stufe setzt also eine Erstbemessung voraus. Entsprechendes gilt, wenn der VN noch vor Ablauf der dreijährigen Neubemessungsfrist Invaliditätsansprüche einklagt. In einem solchen Fall gehen die Prozessbeteiligten typischerweise davon aus, dass der Streit insgesamt in dem vor Fristablauf eingeleiteten Prozess ausgetragen werden soll. Etwaige weitere Invaliditätsfeststellungen werden eingeschlossen (BGH VersR 94, 971).

    Nach dem Urteil des BGH vom 18.11.15 ist aber keinesfalls immer auf die vereinbarte Invaliditätseintrittsfrist abzustellen. Bereits im Leitsatz heißt es nämlich, dass es nur „grundsätzlich“ auf den Zeitpunkt des Ablaufs der in den AVB vereinbarten Invaliditätseintrittsfrist ankommt. Bei Rn. 19 findet sich sodann die Ausnahme. Hier verweist der BGH, optisch hervorgehoben durch die Parenthese, auf 3b seiner Entscheidung vom 4.5.94: „ – von Ausnahmefällen abgesehen (vgl. Senatsurteil vom 4.5.94,IV ZR 192/93, VersR 94, 971 unter 3 b) – “. Dort hat der Senat bereits entschieden, dass es grundsätzlich nur noch darum gehen kann, welchen Grad die unfallbedingte Invalidität innerhalb des ersten Jahres nach dem Unfall hatte, wenn es zu keiner fristgerechten Neufeststellung (oder einer Klage vor Ablauf der Frist von drei Jahren) kommt. Sodann weist der Senat unter 3b darauf hin, dass der Fall eine Besonderheit aufweise. Und eben darauf wird in der Entscheidung vom 18.11.15 Bezug genommen. Denn in dem Gutachten wurde, wie in vielen Fällen, entgegen der o. g. Rechtsprechung nicht auf den Zustand ein Jahr ab Unfall abgestellt, sondern auf den Zustand im Untersuchungszeitpunkt. Da das Gutachten von dem VR in Auftrag gegeben wurde und es anschließend auch zur Grundlage der Regulierung gemacht wurde, sei zwischen den Parteien abweichend von der Jahresfrist der tatsächliche Untersuchungszeitpunkt als Bewertungsstichtag maßgeblich geworden. Von daher kann es entsprechend der BGH-Rechtsprechung ausnahmsweise doch auf einen anderen Zeitpunkt als in den AVB ankommen.

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