Urteil vom 16. 02. 2012 – 7 U 72/11
LEITSÄTZE:
- Bei einer vor der Geltung des neuen VVG verwirklichten Verletzung vorvertraglicher Anzeigepflichten ist der Tatbestand der Anzeigepflichtverletzung nach dem bei Abschluss des Vertrages geltendem Recht zu beurteilen, während sich die Rechtsfolgenregelungen, z.B. § VVG § 19 Abs. VVG § 19 Absatz 3, VVG § 19 Absatz 4 VVG für den Rücktritt, nach neuem Recht richten.
Teilt der Versicherer dem VN schriftlich pauschal mit, dass er im Hinblick auf die Nichtangabe von Erkrankungen vor Vertragsschluss „von dem Recht der Vertragsanpassung” Gebrauch machen wolle, so liegt in dieser Erklärung mangels konkreter Angabe der sich ändernden Vertragsbestimmungen keine Vertragsanpassung i.S.d. § VVG § 19 Abs. VVG § 19 Absatz 4 S. 1 VVG.
Tritt der Versicherer ohne Rechtsgrund vom Vertrag zurück, so hat er die Kosten des daraufhin vom VN beauftragten Rechtsanwalts nach § BGB § 280 BGB zu ersetzen.
AUS DEN GRÜNDEN:
Da der Vertrag vor dem 1. 1. 2008 geschlossen und ein VersFall jedenfalls nicht vor dem 31. 12. 2008 eingetreten ist, ist das Rechtsverhältnis der Parteien, wie das LG zutreffend angenommen hat, nach dem neuen, seit 1. 1. 2008 gültigen Recht zu beurteilen. Steht in Frage, welche Folgen eine vor der Geltung des neuen Rechts verwirklichte Verletzung vorvertraglicher Anzeigepflichten hat, ist nach in Rspr. und Lehre einhelliger Ansicht (LG Köln VersR 2010, VERSR Jahr 2010 Seite 199; Grote/Finkel, VersR 2009, VERSR Jahr 2009 Seite 312; Prölss/Martin-Armbrüster, VVG, 28. Aufl., Art. 1 EGVVG Rn. 9; Looschelders/Pohmann, 2. Aufl., Art. 1 EGVVG, Rn. 15; MüKo-VVG-Looschelders, Art. 1 EGVVG Rn. 10; Rüffer/Halbach/Schimikowski-Muschner, EGVVG Art. 1 Rn. 8), die auch in den Gesetzesmaterialien verlautbart ist (BT-Drucks. 16/3945, S. 118), nach dem sog. Spaltungsmodell zu differenzieren. Da Vorschriften, die bei dem Abschluss von Verträgen nach neuem Recht zu beachten sind, wie z.B. die Fragestellung in Textform nach § VVG § 19 Abs. VVG § 19 Absatz 1 S. 1 VVG oder der nach § VVG § 19 Abs. VVG § 19 Absatz 5 S.1 VVG geforderte Hinweis auf die Folgen einer Anzeigepflichtverletzung, beim Abschluss von Altverträgen noch nicht beachtet werden konnten, muss die Frage, ob der Tatbestand einer Anzeigepflichtverletzung vorliegt oder nicht, nach dem bei Abschluss des Vertrages geltenden Recht beurteilt werden. Lediglich die Bestimmung der Rechtsfolgen richtet sich nach neuem Recht.
Ob dem Kl. der Vorwurf grober Fahrlässigkeit gemacht werden kann, kann auf sich beruhen. Denn die Bekl. hätte den Vertrag auch in Kenntnis der ihr unbekannt gebliebenen Umstände abgeschlossen, wenn auch möglicherweise zu anderen Bedingungen, so dass deshalb der Rücktritt ausgeschlossen ist. Da der Knieschaden außerhalb des erfragten Zeitraums liegt, insoweit also keine Anzeigepflichtverletzung vorliegt, die Epicondylitis die Annahmeentscheidung nicht beeinflusst hätte, wäre es nach dem Vortrag der Kl. lediglich zu zwei Ausschlussklauseln wegen Rückenbeschwerden und Atemwegserkrankungen gekommen. Einen Vertragsschluss hätte die Bekl. aber nicht abgelehnt.
Das LG hat mit Recht festgestellt, dass der Vertrag „unverändert” fortbesteht. Der Versicherer kann bei einem Ausschluss des Rücktrittsrechts nach § VVG § 19 Abs. VVG § 19 Absatz 4 S. 1 VVG zwar nach S. 2 dieser Vorschrift verlangen, dass die anderen Bedingungen, zu denen er in Kenntnis der nicht angegebenen Umstände kontrahiert hätte, Vertragsbestandteil werden. Dieses Recht muss er aber gemäß § VVG § 21 Abs. VVG § 21 Absatz 1 VVG innerhalb eines Monats nach Kenntnis von der Verletzung der Anzeigepflicht geltend machen. Dies ist hier nicht geschehen; soweit die Bekl. im Schreiben vom … lediglich pauschal „von dem … Recht der Vertragsanpassung” Gebrauch machen wollte, genügt diese Erklärung nicht, weil sie nicht erkennen lässt, mit welchen bestimmten Ausschlussklauseln oder zu welcher veränderten Prämienhöhe der Vertrag fortgeführt werden soll.
Zutreffend hat das LG einen Anspruch auf Ersatz vorprozessualer Rechtsverfolgungskosten nach §§ BGB § 280 Abs. BGB § 280 Absatz 1 und BGB § 280 Absatz 2, BGB § 286 BGB verneint, weil die Beauftragung des Prozessbevollmächtigten des Kl. bereits zu einem Zeitpunkt erfolgte, zu dem die Bekl. sich noch nicht in Verzug befand.
Dem Kl. steht aber ein Anspruch auf Ersatz seiner außergerichtlichen Anwaltskosten aus § BGB § 280 Abs. BGB § 280 Absatz 1 BGB zu, weil die Erklärung des Rücktritts, ohne dass ein Rücktrittsgrund vorliegt, eine pflichtwidrige Vertragsaufsage darstellt. Da die Bekl. zum Hergang der Antragsaufnahme ihren Agenten befragen und sich die Bedeutung der Beschwerden des Kl. im Hinblick auf ihre Risikoprüfgrundsätze auch schon vor der Erklärung des Rücktritts vor Augen führen konnte, konnte sie, wenn es darauf überhaupt ankäme, den erklärten Rücktritt auch nicht als plausibel ansehen.