Unterzuckerung nicht entdeckt – Mädchen geistig behindert
Westfälisches Volksblatt, Artikel vom 27.12.2018 von Christian Althoff
„Bad Driburg (WB). Nach einem zwölf Jahre dauernden Rechtsstreit hat das Oberlandesgericht Hamm einem geistig behinderten Kind aus Bad Driburg 500.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen.
Ein kleiner Pieks mit anschließender Blutzuckerbestimmung – mehr wäre nicht nötig gewesen, und Nelé wäre heute ein ganz normales Kind. Doch so kam es nicht. Nelé wurde am 31. August 2006 im St.-Josefs-Hospital Bad Driburg per Kaiserschnitt geholt. Ihre Mutter Selina Krüger (39): „Sie wollte nicht trinken, und abens merkte ich, dass sie kalt wurde.“ Eine Schwester habe das Baby mitgenommen und versprochen, es warm einzupacken. „Sie wollte sich melden, wenn Nelé Hunger hat, aber sie kam nicht wieder.“
Laut Patientenakte wurde um 3:50 Uhr bemerkt, dass Nelé an Händen und Füßen blau war. Sie musste wiederbelebt werden. Die Mutter:“Sie haben mich geholt und gesagt, es sei ein Fall von plötzlichem Kindstod.“ Um 5 Uhr erschien der Notarzt, um das Baby in die Kinderklinik Paderborn zu bringen. Dort wurde der Blutzucker erstmals um 5:40 Uhr gemessen – er war viel zu niedrig. Inzwischen wissen die Eltern: Zucker ist lebenswichtig fürs Gehirn, und weil Nelés Zuckerspiegel so lange so tief im Keller war, wurde ihr Gehirn irreparabel geschädigt.
„Als Eltern hat man natürlich die Sorge, was aus dem Kind wird, wenn man selbst irgendwann nicht mehr da ist“, sagt Carsten Krüger (42). Diese Sorge und die Frage nach dem Warum veranlassten die Eltern kurz nach Nelés Geburt, mit Unterstützung ihrer Rechtsschutzversicherung einen Anwalt einzuschalten. Doch der unternahm so gut wie nichts und legte die Akte irgendwann ab. Als der Familie das klar wurde, wandte sie sich an den Fachanwalt Marc Melzer aus Bad Lippspringe, der den langen Kampf aufnahm.
Zuerst wies das Landgericht Paderborn die Klage wegen angeblicher Verjährung ab. Das OLG Hamm grätschte dazwischen, und das Landgericht verhandelte erneut. Es sah aber keinen bewiesenen Zusammenhang zwischen der unterbliebenen Blutzuckeruntersuchung und Neles Behinderungen und wies die Klage erneut ab. Rechtsanwalt Melzer ging in die Berufung zum Oberlandesgericht. Das hörte mehrere Gutachter und ließ auch die Frage klären, ob ein genetischer Defekt die Ursache der geistigen Behinderung sein könnte. Doch genetisch war alles in Ordnung. Die Ärzte gehen heute davon aus, dass Nele hormonbedingt unterzuckert war.
Nach Ansicht der Gutachter war nach der Wiederbelebung des Babys das Messen des Blutzuckers zwingend erforderlich. Ein niedriger Wert hätte dann sofort mit Glukose ausgeglichen werden können. Doch der Gynäkologe, der Belegarzt an dem Krankenhaus war, unterließ den Blutzuckertest – nach Ansicht der Richter ein grober Behandlungsfehler, der für Neles heutigen Zustand verantwortlich ist.
„Wir haben in den letzten Jahren aber auch tolle Ärzte kennengelernt, die sehr viel für Nele getan haben“, sagt der Vater. Die Zwölfjährige, die zu Hause von ihrer Mutter betreut wird, leidet unter epileptischen Anfällen. Sie kann sich nicht äußern, sie wird gewindelt, Blutzucker und Sauerstoffsättigung müssen überwacht werden – gelegentlich auch nachts. Der Pflegeaufwand ist so groß, dass die Mutter nach einem eigenen Krankenhausaufenthalt nicht zur Reha konnte, weil ihr Mann keinen Urlaub mehr hatte und sich jemand um Nele kümmern musste. Um einmal durchatmen zu können, verbrachten die Krügers Weihnachten mit ihren Töchtern Anna-Lena (19) und Nele im Kinderhospiz Bethel. Dort konnten die Eltern die Zwölfjährige vorübergehend in gute Hände geben und hatten Zeit für sich und die ältere Tochter.
Selina Krüger war in der vergangenen Woche gerade dabei, die Koffer fürs Kinderhospiz zu packen, als Rechtsanwalt melzer sie anrief und von der Entscheidung des OLG berichtete. „Ich konnte nicht fassen, dass der jahrelange Kampf endlich zu Ende war“, sagt die Mutter unter Tränen.
Die Richter begründeten das Schmerzensgeld damit, dass Nele fast jede Möglichkeit der körperlichen und geistigen Entwicklung genommen sei. Sie werde ihr Leben lang Hilfe brauchen und wegen der Anwesenheit von Pflegepersonen nie eine Privatsphäre haben. Anwalt Marc O. Melzer: „Auf unseren Antrag hin hat das OLG den Gynäkologen außerdem verurteilt, für alle Kosten aufzukommen, die Nele im Laufe ihres Lebens durch die Behinderung entstehen. Damit ist den Eltern eine große Sorge genommen“. Az.: 26 U 9/16″
Rechtsanwalt Melzer ist als Fachanwalt für Medizinrecht und Versicherungsrecht auf Arzthaftungsfälle spezialisiert und vertritt bundesweit Fälle aus dem Bereich „Geburtsschaden“. Allein die Zinsen aus dem hier ausgeurteilten Schmerzensgeld belaufen sich auf über 182.000 Euro.